Берлін – 8/9 травня 2025

Gedenken gegen den Krieg
Statement 2025

Für eine verantwortungsvolle, reflektierte Erinnerung 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – angesichts der Krise der europäischen Friedensordnung

80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht die europäische Friedensordnung erneut vor einer historischen Bewährungsprobe. Die russische Vollinvasion der Ukraine, das Versagen internationaler Institutionen und der zunehmende Druck auf demokratische Gesellschaften von rechts machen deutlich: Eine reflektierte, verantwortungsbewusste Erinnerungskultur ist heute dringlicher denn je. Gefragt ist eine mündige, geschichtsbewusste europäische Zivilgesellschaft.

Das Bündnis Gedenken gegen den Krieg ruft zu einer Erneuerung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg auf – getragen aus der Mitte der Gesellschaft. Im Zentrum stehen bislang verdrängte Narrative und eine kritische Auseinandersetzung mit sowjetischen wie postsowjetischen Geschichtsbildern. Wir fordern ein gelebtes Erinnern, das Verdrängtes sichtbar macht – auch und gerade an sowjetisch geprägten Gedenkorten.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, sondern geht ebenfalls mit einer perfiden Instrumentalisierung der Geschichte einher. Der Kreml missbraucht den Sieg über Nazi-Deutschland zur Militarisierung der Gesellschaft und zur Legitimation neuer Gewalt. Dem möchten wir eine zeitgemäße Gedenk- und Erinnerungskultur entgegensetzen, die die Lehren aus den Katastrophen des 20. Jahrhundert ernst nimmt – gegen jede Form von Geschichtsverfälschung und für ein friedliches, demokratisches Europa.

Aus dieser Überzeugung heraus formulierte das Bündnis 2022 Leitlinien für ein verantwortungsvolles Erinnern an das Kriegsende. Wir unterstützen auch den Appell der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission vom 10. Februar 2025 und rufen dazu auf, für die Praxis des Erinnerns und Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg, mit besonderem Fokus auf sowjetisch geprägte Gedenkstätten, folgende Punkte zu berücksichtigen:

1. Entstalinisierung durch historische Kontextualisierung

Sowjetisch geprägte Gedenkstätten – unter anderem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR – stehen oft buchstäblich für eine in Stein gemeißelte Monumentalpropaganda. Solange das äußere Erscheinungsbild dieser Denkmäler nicht verändert wird, ist es umso wichtiger, bildliche Darstellungen und Inschriften – etwa Zitate von Josef Stalin – historisch einzuordnen, kritisch zu erläutern und der Propaganda reflektierte historische Narrative gegenüberzustellen. Eine zeitgemäße Kontextualisierung kann unter anderem in Gedenkstätten durch QR-Codes erfolgen, die zu digitalen Inhalten führen, in denen Darstellungen und Aussagen kommentiert und historisch eingeordnet werden. Auch kritisch-historische Führungen bieten die Möglichkeit, notwendige Hintergründe zu vermitteln und Diskussionen anzuregen.

2. Deimperialisierung des Gedenkens

Die sowjetische Erzählung vom Großen Vaterländischen Krieg (1941-1945) schrieb den Sieg über den Nationalsozialismus fast ausschließlich der Roten Armee und dem russischen Volk zu. Dabei wurden sowohl der Beitrag der Alliierten als auch der Widerstand und das Leid aller anderen, auch der nicht-russischen Völker innerhalb der Sowjetunion systematisch marginalisiert. Heute instrumentalisiert der russische Staat diese Erinnerung erneut für eine militaristische und neoimperiale Innen- und Außenpolitik – auch über Kriegerdenkmäler im Ausland. Es gilt, diesen imperialistisch geprägten Erinnerungsdiskurs – auch in der Symbolsprache der Denkmäler und Rituale – zu entlarven und sichtbar zu machen, wie das Sowjetische fälschlich mit dem Russischen gleichgesetzt wird. Ein möglicher Ansatz: das öffentliche Vorlesen historischer Zeugnisse und Stimmen unterschiedlicher Herkunft – etwa von ukrainischen, baltischen, zentralasiatischen oder jüdischen Zeitzeug:innen – durch Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Dabei können Perspektiven bewusst gewechselt und Kontraste erfahrbar gemacht werden, um das vielfältige, oft verdrängte Erbe sichtbar zu machen und imperiale Narrative zu durchbrechen.

3. Demilitarisierung – Gedenken für den Frieden

Für viele derjenigen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, Widerstand gegen NS-Deutschland leisteten oder unter der Besatzung litten, war das Kriegsende in Europa vor allem ein Tag des Gedenkens an die enormen Opfer, die für die Wiederherstellung des Friedens gebracht wurden – ein Tag der Erinnerung an die Gefallenen, die Ermordeten, und das unermessliche Leid. Wir rufen daher zu einem stillen, würdevollen Gedenken auf – ohne jede Glorifizierung des Krieges und ohne Symbole, die mit der militarisierten Art des Siegesfeierns im heutigen Russland in Verbindung stehen. Stattdessen möchten wir eine sichtbare, friedensorientierte Alternative schaffen, die empathisches Erinnern und Gedenken ermöglicht und sich bewusst von jeder Form der Kriegsverherrlichung abgrenzt.

4. Deanonymisierung – Personalisierung des Gedenkens

Ein zukunftsgerichtetes Erinnern erfordert, anonymisierten Opfern ihre Namen, Geschichten und Würde zurückzugeben. Die Personalisierung des Gedenkens bedeutet, kollektive Monumente durch individuelle Biografien zu ergänzen und so die historische Distanz zu überwinden. An Orten wie dem Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow, wo tausende Soldat:innen der Roten Armee anonym beigesetzt wurden, kann das öffentliche Verlesen ihrer Namen ein erster Schritt zu einer humanisierten Erinnerung sein. Die Identifizierung und die kenntliche Markierung von Grabstätten schafft neue Formen des Respekts – über nationale und ideologische Grenzen hinweg. Damit wird das Gedenken greifbar, nachvollziehbar und anschlussfähig für kommende Generationen. Die Kenntlichmachung individueller Schicksale – auch bei Gedenkstätten sowjetischer Prägung – eröffnet einen empathischen Zugang zur Geschichte. Sie steht für eine Erinnerungskultur, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

5. Individualisierte Erinnerung – Raum für persönliche Geschichten schaffen

Eine zukunftsorientierte Gedenkkultur muss den individuellen und familiären Erfahrungen Raum geben. Jenseits der abstrakten Symbolik offizieller Denkmäler braucht es Orte, an denen persönliche Verluste, Überlebensgeschichten und generationsübergreifende Erinnerungen sichtbar und teilbar werden. Das Bündnis Gedenken gegen den Krieg setzt sich für Formate ein, die individuelle Zeugnisse würdigen und biografisches Gedenken ermöglichen. Ein Beispiel dafür ist die Errichtung einer partizipativen Gedenkwand mit Namen, Fotografien und Dokumenten aus Familienarchiven – ein lebendiger Raum, in dem persönliche Geschichten von Menschen dokumentiert werden, die im Widerstand gegen Nazideutschland standen, unter NS-Besatzung litten, in Konzentrationslagern oder im sowjetischen Gulag verfolgt wurden. Zugleich ist es ein Raum, in dem für uns eine bestimmte Haltung wichtig ist, und das bedeutet, dass Symbole, die mit der aktuellen russischen Aggression in Verbindung gebracht werden, untragbar sind. Solche Orte ermöglichen kollektives Erinnern durch individuelle Perspektiven – offen, vielstimmig und über Grenzen hinweg.

6. Erinnerung im Dialog – Räume für Austausch und Auseinandersetzung schaffen

Eine lebendige Erinnerungskultur entsteht im Gespräch. Deshalb setzt das Bündnis Gedenken gegen den Krieg auf dialogische Formate, die Menschen miteinander ins Gespräch bringen – über Perspektiven, historische Verantwortung und die Bedeutung von Gedenken heute. Auch an Orten wie dem Sowjetischen Ehrenmal sollen Austauschformate stattfinden, in denen Aktivist:innen, Historiker:innen, Menschenrechtler:innen, Psycholog:innen, Künstler:innen und Politiker:innen mit Besucher:innen in Dialog treten. In Gesprächsrunden, offenen Foren oder thematischen Rundgängen wird die Erinnerung gemeinsam reflektiert, befragt und erweitert. Gerade in Zeiten wachsender Polarisierung braucht es solche Orte des Zuhörens, Streitens und Verstehens – damit Erinnerung nicht spaltet, sondern verbindet.

7. Verantwortliche Erinnerung – verdrängte Kapitel sichtbar machen

Verantwortliches Gedenken heißt, auch unbequeme Wahrheiten sichtbar zu machen. Dazu gehört die Thematisierung der sowjetischen Verbrechen: die Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts zwischen 1939 und 1941, die Besetzung großer Teile Osteuropas, Deportationen und Gewalt gegen Zivilist:innen. Diese lange verdrängten Kapitel sind für das Verständnis heutiger Konflikte zentral. Ausstellungen wie „Vergessene Verbrechen – Wie es zum aktuellen Krieg kam“ von Demokratie-ja e.V. oder eine Fotoausstellung über die im heutigen Krieg zerstörten ukrainischen Städte, die mit Bildern des Zweiten Weltkriegs korrespondieren, schaffen Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart – und stellen sich der historischen Verantwortung. So wird sichtbar: Auch die verdrängten Geschichten sind Teil unserer gemeinsamen europäischen Erinnerung – und ihr Aufarbeiten ist zentral, um die Gegenwart zu verstehen.

8. Inklusive und diverse Erinnerung – Gedenken für alle öffnen

Eine zeitgemäße Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg muss die Vielfalt der heutigen Gesellschaft widerspiegeln. Frauen, Minderheiten, LGBTIQ-Personen und Menschen mit Migrationsgeschichte wurden bislang oft aus dem offiziellen Gedenken ausgeblendet – obwohl auch sie Formen von Verfolgung, Widerstand oder familiärer Prägung durch den Krieg erfahren haben. In Deutschland leben viele Menschen, deren familiäre Geschichten zwar nicht unmittelbar mit der NS-Verfolgung, wohl aber mit kolonialen Kontexten, sowjetischer Repression oder Kriegserfahrungen anderer Weltregionen verbunden sind. Auch diese Perspektiven verdienen Sichtbarkeit und Raum im öffentlichen Gedenken. Diskussionen über Diversität am Denkmal, künstlerische Beiträge aus migrantischen Communities, queere Rundgänge oder Biografien von Frauen im Krieg können Brücken schlagen – zwischen der Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Realitäten der Gegenwart. So wird Gedenken zu einem inklusiven Raum der Verständigung.

9. Gelebte Erinnerung – Aktualisierung und Beteiligung

Eine lebendige, demokratische Erinnerungskultur entsteht nicht durch staatliche Rituale allein, sondern durch Beteiligung – durch Erinnerung von unten. Wenn Menschen ihre Familiengeschichten erzählen, eigene Gedichte oder Musik im Kontext des Gedenkens vortragen, wird Geschichte persönlich erfahrbar, wird Gedenken nicht nur aktualisiert, sondern gemeinschaftlich gestaltet. Solche Formen der gelebten Erinnerung ermöglichen es, individuelle Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg und aktuellen Konflikten – wie dem Krieg in der Ukraine – miteinander zu verbinden. Sie machen das Gedenken vielfältiger, nahbarer und relevanter für kommende Generationen. Gelebte Erinnerung gibt Raum für individuelle Ausdrucksformen im kollektiven Erinnern und Gedenken.

8. Mai 2025, Berlin
Bündnis “Gedenken gegen den Krieg”